Ingrid Kästner zum 80. Geburtstag.

Glückwunschadresse des Präsidenten vom 25. März 2022

Hochverehrte, liebe Frau Kästner!

Indem ich meine allerherzlichsten Glückwünsche zur Vollendung Ihres achtzigsten Lebensjahres am 3. März hier wiederhole, möchte ich Ihnen zugleich im Namen des Senats und unserer Akademie ganz besonders herzlich für Ihr unvergleichliches Engagement danken, mit dem Sie seit bald fünfzehn Jahren die Projektkommission „Europäische Wissenschaftsbeziehungen“ dazu genutzt haben, die Gemeinnützigkeit, die unsere Societät auf der Stirn trägt, zu befördern und europaweit zu verbreiten, wie die Tagungen in Erfurt, auf Schloß Hundisburg, Berlin sowie zweimal in Padua und dreimal in Wien zeigen. Dazu muß man ergänzen, daß Sie die Tagungsthemen vor allem mit dem vor gut drei Jahren verstorbenen Generalsekretar Jürgen Kiefer, aber auch teils mit Ihren Kommissionsmitgliedern Dietrich von Engelhardt und Karin Reich entwickelt, die Tagungen organisiert, die Ergebnissicherung betrieben und dadurch dafür gesorgt haben, daß zu jeder neuen der insgesamt 20 Tagungen in der Regel auch schon der Tagungsband der letzten vorlag. Es ist nicht zuviel gesagt, wenn ich als Nutznießer dieses Wissenschaftsspektakels andeute, weil ich zu jeder Neueröffnung einer Tagung den ergebnissichernden Band der letzten in die Hand gelegt bekam, daß Sie, um diesen Rhythmus zu halten, die Beiträge eintreiben, redaktionell bearbeiten, das Layout besorgen sowie Druck und Vertrieb begleiten mußten. Gelegentlich wurde Ihnen Hilfe zuteil, aber das Konzept der Punktgenauigkeit „just in time“ und die damit verbundene Arbeitslast lagen ganz bei Ihnen. Dafür ist Ihnen unser aller Dank sicher – und zwar einerseits im Interesse der beteiligten Wissenschaftsdisziplinen wie anderseits im Interesse der Akademie gemeinnütziger Wissenschaften zu Erfurt und der Dalberg-Stiftung.

In gewisser Weise war Ingrid Kästner, geb. Walter, aus Zwittau (Svítavy, ČSR) ihre Interessenbreite in die Wiege gelegt. Ihr Vater war Fachlehrer für Deutsch, Geschichte, Geographie sowie Lehrer für landwirtschaftliche Fachschulen, und die Mutter unterrichtete Mathematik und Musik. Irgendwo da mußte auch ihr kalligraphisches Talent seine Wurzeln haben. Nach dem Abitur in Waldheim studierte Ingrid Kästner in Rostock und Leipzig Humanmedizin, wurde in Leipzig zur Dr. med. promoviert, durchlief hier die Facharztausbildung am Institut für Pharmakologie und Toxikologie mit einem Forschungsstudium in Leningrad und Tiflis und wirkte nach der Habilitation (Promotion B zum Dr. sc. med.) 1981 als Oberärztin, Hochschuldozentin und schließlich Professorin für Geschichte der Medizin am Leipziger Karl-Sudhoff-Institut, deren stellvertretende Direktorin sie von 2000 bis 2007 war. Der erwähnten imposanten Reihe der „Europäischen Wissenschaftsbeziehungen“ vorausgegangen war die der „Deutsch-russischen Beziehungen in Medizin und Naturwissenschaften“, deren Bd. 13 im Jahr 2006 erschien, kurz vor dem Auftakt der „Europäischen Wissenschaftsbeziehungen“ – der Krönung ihres Lebenswerkes.

Aus der üppigen Publikationstätigkeit der Jubilarin hervorheben möchte ich ihre Biographien von Johannes Gutenberg (1978), von Theophrastus Bombastus von Hohenheim, genannt Paracelsus (1985) und von Sigmund Freud (1989). Und seiner Aktualität halber sei der von Ingrid Kästner mitherausgegebene Band gesondert benannt: „Bekenntnisse zum Frieden. Naturwissenschaftler und Mediziner des 20. Jahrhunderts im Kampf um Frieden und Abrüstung“ (1989). Mit Bewunderung für das Volk der Ukraine möchte ich gern auf den verbindenden Geist des Kosmopolitismus verweisen, der gegenwärtig aus den tausenden russischen Unterschriften spricht, mit denen Vertreter und Vertreterinnen der Wissenschaften fordern: „Stoppt Putin!“ Und wenn schon Sanktionen eine wichtige Gegenwehr darstellen, so mögen sie doch bitte nicht einer reinen Zugehörigkeit, sondern den verbrecherischen Handlungen gelten! (Ich will nicht verschweigen, wie schwer es fällt, unter den gegenwärtigen Vorzeichen einen Glückwunsch zu formulieren.)

Wer im Umfeld der Publikationsfülle von Ingrid Kästner ihre Habilitationsschrift von 1981 zu „Tierexperimentellen Untersuchungen zur pharmakologischen Beeinflussung von Epilepsie-Modellen unter besonderer Berücksichtigung serotoninerger Funktionen“ ins Visier nimmt, droht sich ob der Veröffentlichungsumgebung nicht nur leicht zu verlieren, sondern gerät ob der historischen Tiefe und thematischen Vielfalt der Perspektiven vor allem ins Staunen. Und man erkennt plötzlich, wie unaufgesetzt und folgerichtig die historischen, disziplinären, wissenschafts- und kulturgeschichtlichen Interessen von Ingrid Kästner in ihre Leitung der Projektkommission „Europäische Wissenschaftsbeziehungen“ münden, mit deren 14. Tagung sie auch noch einmal die „Deutsch-russische Zusammenarbeit wissenschaftlicher und kultureller Institutionen vom 18. zum 20. Jahrhundert“ (2017) aktualisierte, woran zudem die „Deutsch-Russischen Beziehungen der Frauenheilkunde & Geburtshilfe“ (2020) anknüpfen konnten.

Als der Senat der Akademie Anfang 2008 die Projektkommission „Europäische Wissenschaftsbeziehungen“ ins Leben rief, war es das Anliegen der Wissenschaftshistoriker, Historiker und Fachwissenschaftler verschiedener Provenienz, die Wissenschaftsgeschichte in europäischer Perspektive zu durchleuchten. Die Projektgruppe hat sich seither unter verschiedenen Gesichtspunkten genähert, neue Forschungsergebnisse zur Diskussion gestellt sowie Desiderate aufgezeigt und weit über Erfurt hinaus die inter- und transdisziplinäre Zusammenarbeit gefördert. Daraus ist die ansehnliche Reihe der bisher zwanzig Bände und drei Supplemente hervorgegangen, die wir maßgeblich Ihnen, verehrte Frau Kästner, verdanken. Vor allem haben Sie vor bald fünfzehn Jahren eine Art wissenschaftsgeschichtlicher Osterweiterung angestoßen, die ich zitieren darf:

„Mit der Erweiterung der Europäischen Union, der Öffnung nach Osten, sind historische Kenntnisse und historisches Verständnis von größter Bedeutung, denn Europa bedeutet vor allem Kultur- und Wissenschaftsraum und nicht nur Wirtschaftsraum, der den Osten als künftigen strategischen Markt einbezieht.“ (EWB 1, S. V)

Welche Bedeutung dieser Programmatik zukommt, haben dann die Tagungen und ihre ergebnissichernden Bände vielfach erwiesen. Welchen Anteil die Erfurter Akademie in ihrer Geschichte seit ihrer Gründung 1754 daran hatte, wurde auch dadurch unübersehbar. Und wie Sie das ganz persönlich forciert haben, belegt Ihr eigener Beitrag zur ersten Tagung, in dem Sie am Beispiel der Psychiatrie der Wissenschaftskommunikation zwischen dem Russischen Zarenreich und dem deutschsprachigen Europa im 19. Jahrhundert nachgegangen sind. Außerdem rückte der Beitrag von Christoph Friedrich im gleichen Kontext bereits die europäischen Kontakte von Johann Bartholomäus Trommsdorff anhand seines Briefwechsels ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Damit sehen wir einen Brückenschlag von den Anfängen bis zum 12./13. Mai dieses Jahres 2022, da Sie das endlich stattfindende Jubiläumssymposium zum 250. Geburtstag Trommsdorffs, das wir coronabedingt zweimal 2020 und 2021 verschieben mußten, mitvorbereiteten und dessen 21. Band Ihnen auch schon lange am Herzen liegt.

In seinem Grußwort zur ersten Tagung 2008 zitierte der Präsident und spätere Ehrenpräsident Werner Köhler, dessen ersten nichterlebten Geburtstages wir gestern gedenken konnten, daß die akademische „Correspondenz“ bereits 1763, also im ersten Jahrzehnt der Akademie, „fast mit allen Universitäten Deutschlands, ingleichen mit Gelehrten in Paris, Montpellier, Petersburg, Schweden und Holland geführet“ worden sei. Die europäische Reichweite der Akademie hat sich deutlich erweitert, wie allein die Forschungsreisen Alexander von Humboldts belegen mögen, der 1791 mit 21 Jahren Mitglied der Erfurter Akademie wurde. Aber die Wissenschaftskommunikation hatte im 18. und 19. Jahrhundert ihren Schwerpunkt zweifellos in Europa, bevor im 20. und 21. Jahrhundert die Globalisierung neue Orientierungen verlangte und die gar nicht so leichte politische Einigung Europas wenigstens mit beförderte. Doch ein wichtiges Anliegen der Projektgruppe „Europäische Wissenschaftsbeziehungen“ ist es geblieben, Einzelstudien genauso wie die bilateralen Studien etwa zu deutsch-italienischen, deutsch-französischen oder eben deutsch-russischen Wissenschaftsbeziehungen jeweils im gesamteuropäischen und internationalen Kontext zu betrachten. Wer sich in der Reihe der zwischen 2009 und 2020 erschienenen Bände umsieht, wird unschwer bemerken, daß lange vor den innereuropäischen politischen Brückenschlägen die (Vorsicht: generisches Maskulinum) Gelehrten, Künstler und Wissenschaftler europäischer Nationen und Regionen bereits Europa lebten, weil Wissenschaften und Künste am wenigsten durch Grenzen einzuengen sind.

Dies alles im Blick, erlaubt es, uns alle selbst mitzubeglückwünschen dafür, daß es Sie, hochverehrte Frau Kästner, gibt und wir an Ihren Leistungen teilhaben dürfen. Dafür gebührt Ihnen unser aller Dank, verbunden mit den allerherzlichsten Glückwünschen und dem Wunsch, daß Sie Ihrer Familie und Ihrer Akademie lange erhalten bleiben mögen. Und in Erinnerung an die Dalberg-Stiftung, die immer wieder auch den Druck Ihrer Reihe unterstützen durfte, befördere heute diese „Dalberger Ritterhölle“ wenigstens symbolisch Ihre Gesundheit!

Leben Sie hoch und glücklich!

Erfurt, den 25. März 2022

Klaus Manger
Präsident der Akademie

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